Irgendwann einmal - wenn ich das mal noch so genau wüsste - hat mich der Eisenbahnvirus gepackt und bis heute nicht losgelassen.
Meine Vorfahren, hauptsächlich in Gestalt meines Opa
Heini werden wohl nicht so ganz unschuldig daran sein. Jedenfalls kann ich mich
noch gut daran erinnern, wie er mich gelegentlich mitnahm, wenn er 'nur mal eben
um den Pudding gehen wollte'. So hießen bei ihm die kleinen Spaziergänge mit
denen er sich in seinen Arbeitspausen - als freier Handelsvertreter, wie er
gerne betonte, hatte er seinen Schreibtisch natürlich zuhause stehen - ein
wenig frische Luft gönnte.
Diese Gänge um den Pudding führten meistens erst mal zu der Garage, die er bei
einer Tankstelle gemietet hatte, um seinen Käfer zu betanken. Dann ging es von
dort ein Stückchen Richtung Hafen, geradewegs zur Bahnhofsbrücke. Für mich
ein Paradies. Direkt an der Brücke stand das Wärterstellwerk, hin und wieder
war es möglich, den Eisenbahner bei seiner Arbeit dort zu beobachten. Immer,
wenn er aufstand und einen der zahllosen Hebel bewegte, war mir klar: jetzt wird
es spannend. Oft war es nur die kleine Rangierlok, die ein paar Wagen hin und
her schob. Der Sinn des Rangierens war mir damals noch keineswegs klar. Oder es
kam tatsächlich ein richtiger Zug. Selbst auf einem kleinen Unterwegsbahnhof
war damals noch einiges los. Ich konnte mich jedenfalls kaum dort losreißen,
die Spaziergänge wurden bestimmt oftmals länger, als geplant.
Von der Bahnhofsbrücke ging es dann parallel zur Bahn hinunter bis an den
kleinen Bahnübergang - hoffentlich waren die Schranken geschlossen. Von dort
waren es nur noch ein paar Schritte zu unserem Haus. Kein Wunder, dass ich mich
oft genug fortstahl, um den Schrankenwärter zu besuchen. Mal sehen, wer heute
Dienst hat. Ist es vielleicht Herr Friedeck, der selber auch kleine Kinder und
daher jede Menge Verständnis für mich hatte. Oder Herr Ritterbusch, Beamter
mit Leib und Seele aber gerne bereit, in den Zugpausen einem kleinen Jungen
immer wieder die interessanten Dinge, die zur Ausrüstung eines
Schrankenpostens gehören, zu zeigen: Karbidlampen, die rot-weiße Fahne und die
Knallkapseln, die mir gewaltig imponierten - immerhin konnte er damit bei
größter Gefahr einen richtigen Schnellzug zum Stehen bringen. Oder Herr
Flerkorte mit dem Holzbein, auf das er mächtig stolz zu sein schien. War ihm
doch sein eigenes in der pflichtbewussten Ausübung des Eisenbahndienstes bei
einem Betriebsunfall abhanden gekommen. Ich erinnere mich noch gut, wie er eines
Tages seine Schranken schloss, den Zug abwartete, die Schranken öffnete und mir
anschließend berichte: "Das war ein Sonderzug mit Herrn Seebohm, unserem
Verkehrsminister!" Ich wusste natürlich nicht, was ein Minister ist und
hatte auch den Namen noch nie zuvor gehört. Aber wie wichtig musste doch dieser
Mann sein, wenn schon ein Sonderzug extra für ihn fährt! Ich jedenfalls war
aufs Tiefste beeindruckt.
Als ich dann bald zur Schule kam, hatte ich riesiges Glück. Unsere Schule war früher mal ein Schloss. Und unser Klassenraum war der einzige in der ganzen Schule von dem aus man einen vorzüglichen Panoramablick auf den Bahnübergang der Hafenbahn über die Hafenstraße und die parallel verlaufende Ziegeleibahn hatte. Meistens kam ja nur die kleine Köf, aber gelegentlich war es auch schon mal eine V20 oder V36 oder sogar eine große Dampflok. Unsere Lehrerin hatte gar kein Verständnis für derartige Ablenkung vom Unterricht. Die Strecke ist längst abgebaut, der Hafen dient nur noch Motorbooten und Segelyachten als Heimat. Frachtverkehr und Muschelkalkwerke sind nur noch Erinnerung. Was gäbe ich, heute noch einmal eine 50'er mit einer Handvoll Güterwagen dort zu sehen.
Bevor die neue Berufsschule und eine Reihe von Mehrfamilienhäusern den Blick verbauten, hatte man von unserem Küchenfenster aus sowohl die Hauptbahn als auch die Nebenbahn in die Friesische Wehde über eine weite Strecke im Blick. Besonders faszinierten mich die 'Lorenzüge' - endlos lange Züge aus Muldenkippwagen, die Steine für den Hafenneubau in Wilhelmshaven heranschafften. Auf der Nebenbahn fuhren fast nur Güterzüge. Nur einmal im Jahr, wenn der Betrieb, in dem meine Patentante arbeitete seinen Ausflug machte, durfte ich mir den Samba-Express, so nannte man damals die Gesellschaftssonderzüge, nicht entgehen lassen!
Aber dann waren da auch noch die Sonntagsspaziergänge.
Oft genug bettelten mein älterer Bruder und ich: "Gehen wir wieder zu den
alten Loks?" An dem dreiständigen Lokschuppen, vor einigen Jahren noch
Lokbahnhof mit mehreren Loks der Reihe 74 und wohl auch 93, standen etliche
ausgemusterte 38'er, 50'er und, wie ich später auf Fotos feststellen konnte,
sogar eine 81 herum.
Durch die Eisenbahnergärten, immer darauf bedacht, nicht vom Bahnhof gesehen zu
werden, wanderten wir dann zu diesem Schrottplatz. Kletterten auf den Loks herum
oder kurbelten die kleine Drehscheibe in die Runde.
Im Laufe der Jahre verschwanden dann die Dampfloks nach und nach. Immerhin war Oldenburg Hbf eines der ersten vollverdieselten Bahnbetriebswerke der DB. Ein Restbestand an 50ern verblieb noch beim Bw Oldenburg Vbf, später dann Leihloks vom Bw Uelzen und häufig Gastloks aus Emden und Rheine. Nur auf der Strecke nach Wilhelmshaven war das Dampfzeitalter Mitte der 60er Jahre praktisch vorbei. Umso mehr freute man sich vor einer Sonderleistung mal wieder Dampf zu sehen. Richtig was los war im November 1971, als auf der Nebenbahn nach Neuenburg der Bahnhof Schweinebrück zurückgebaut wurde. Wegen eines im nahen Wald gelegenen Munitionsdepots hatte man im 2. Weltkrieg dort recht umfangreiche Gleisanlagen installiert, die nun beseitigt wurden. Mehrere Wochen lang kam jeden morgen ein Bauzug aus Oldenburg. Er bestand aus einer 50 (meisten die 050 544), einem Dampfkran und mehreren Mannschafts- sowie Gerätewagen. Eines Abends kam ein Freund, der direkt an der Nebenbahn wohnte, völlig außer Atem bei mir an. "Der Bauzug ist gerade zurückgekommen - mit 'ner 94!" Sofort zum Bahnhof geradelt - offenbar hatte er noch keine Einfahrt gehabt, jedenfalls waren wir vor ihm da. Der Fahrdienstleiter war schon mächtig am rotieren, es war nicht mehr viel Zeit um Gleis 1 für den nächsten Eilzug zu räumen. Also den ganzen Laden auf ein Nebengleis gesetzt und mit der Lok an die Viehrampe - zum Wassernehmen aus dem Hydranten. Der Eilzug rollte auffällig langsam in den Bahnhof herein - Lokschaden. Und der Meister auf seiner 216 war mächtig froh, die 94 im Nebengleis zu sehen. Sein Ansinnen wurde von der Dampflokmannschaft aber mit brüllendem Gelächter quittiert: "Mit dem bisschen Kohle wird's eh schon knapp und Wassernehmen dauert hier auch ewig, ist ja zum Saufen fürs Vieh. Für mehr als unsere eigene Fuhre reicht's auf gar keinen Fall. Hol' Du Dir mal 'ne Ersatzlok aus Oldenburg!" So in Rage hatte der Lokführer auch keine Lust mehr, sein Angebot, uns auf dem Führerstand nach Oldenburg mitzunehmen, aufrechtzuerhalten. Wir warteten noch ein Weilchen ab, was denn noch so geschieht, aber bald wurde uns kalt - immerhin hatten wir November - und machten, dass wir nach Hause kamen.